Arbeiten 4.0. Virtuelle Teams. Arbeiten in der Zukunft. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht über Veröffentlichungen stoße, die sich mit der Zukunft der Arbeit befassen. Meist vertrete ich die dort geteilten Ansichten nicht oder nur sehr bedingt, was vermutlich daran liegt, dass ich seit einigen Jahren bereits in einer Arbeitsumgebung aktiv bin, die für viele (noch) unvorstellbar ist. Meine Erfahrung damit schildere ich in diesem Blogpost.
Zu Beginn dieses Jahrzehnts hätte ich ein Angebot, komplett von daheim zu arbeiten, noch rundweg abgelehnt. Dafür würde meine Disziplin nie ausreichen, dachte ich. Und überhaupt, wie sollte dann die Abstimmung im Team laufen? Oder der Flurfunk? Oder die persönliche Ansprache?
Heute kann ich es mir nur noch sehr schwer vorstellen, längere Zeit in ein Büro fahren und dort eine bestimmte Anzahl an Stunden sitzen zu müssen, um von dort die Arbeit zu erledigen, die ich dank Internet und Computer überall auf der Welt ebenso gut erledigen könnte. Egal, wie müde ich gerade bin. Egal, wie kreativ ich gerade bin. Von der nicht sinnvoll zu nutzenden Zeit im Auto oder in öffentlichen Verkehrsmitteln ganz abgesehen.
Stetiger Wandel hält den Geist beweglich
Der Wandel ist einer nicht ganz freiwilligen Auszeit geschuldet. Einer Auszeit, die ich genutzt habe, mir intensiv Gedanken darüber zu machen, wie ich eigentlich arbeiten möchte. Wobei es damals eher noch um Definition ging, was ich nicht mehr machen wollte. Dazu gehörte auf jeden Fall das 8-17 Uhr Hamsterrad. Dazu gehörten aber auch starre Hierarchien und Führungskräfte, die nicht an einem Strang zogen oder die ihren Teams nicht vertrauten.
In dieser Phase sprang mich eine Ausschreibung an, die mir keine Ruhe ließ. Eigentlich war das alles noch unvorstellbar für mich:
- 50 Prozent Teilzeit
- 100 Prozent Homeoffice
- Arbeitgeber in einer anderen Stadt (gute zwei Stunden mit dem ICE)
Ich habe mich trotzdem beworben. Mit Erfolg. Nicht nur die neuen Aufgaben waren spannend und perfekt dazu geeignet, meine bisherige Expertise zu nutzen und auszubauen, auch mein Vorgesetzter war perfekt für die Arbeit auf Distanz:
- er hatte bereits Erfahrung damit gesammelt
- er hat generell das passende Mindset für die Arbeitswelt von morgen
- er vertraut seinen Mitarbeitern
- er coacht statt starre Regeln vorzugeben
- er hat ein offenes Ohr mit feinen Antennen
- und er braucht keine Hierarchien im Alltagsgeschäft
Hilfe, ich bin “frei”
Zugegeben, es hat eine Weile gebraucht, bis ich der plötzlichen “Freiheit” über den Weg getraut habe und ich habe definitiv mehr als 50 Prozent gearbeitet. Weil es Spaß gemacht hat. Weil ich mich einbringen konnte. Und weil ich arbeiten konnte, wenn mein Kopf dafür klar genug war. Natürlich gab es auch Situationen, in denen meine Anwesenheit im Büro oder bei Events erforderlich war. Ebenso wie einigermaßen regelmäßige Zeiten für Telefonate. Aber das alles ist für mich selbstverständlich gewesen. Schon immer.
Kurz und gut: Ich hatte mich richtig entschieden!
Neben meiner festen Teilzeit war ich dann noch in zwei Stuttgarter Startups aktiv. Klar hat man sich da ab und an mal getroffen, aber gearbeitet hat jede und jeder überwiegend von daheim. Also auch hier waren die richtigen Mindsets bereits vorhanden. Hinzu kamen weitere wichtige Werkzeuge für eine erfolgreiche Kollaboration, die ich kennenlernen durfte.
Ein gut gefüllter Werkzeugkasten ist mit am Start
- Mit Trello, also ein online Kanban Board, habe ich vorher bereits gearbeitet.
- Slack, ein potentes Tool für die Online-Kommunikation lernte ich in dieser Zeit kennen und sehr schätzen.
- Google Drive war und ist ebenfalls schon lange mein Werkzeug der Wahl, wenn es um Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Präsentation, usw., aber inzwischen gibt es hier längst auch andere Anbieter, die Zusammenarbeit in Echtzeit ermöglichen.
- Für Konferenzen bieten sich Skype und zum Beispiel die App appear.in, die sich auch in Slack integrieren lässt.
- VPN
Natürlich gibt es noch viele andere Werkzeuge, die die gleichen Zwecke ebenso gut oder gar besser erfüllen. Darüber brauchen wir nicht diskutieren. Ich jedenfalls nutze die Genannten.
Jetzt kommt der Haken an der Sache
Was ich nicht bedacht hatte: Jetzt konnte ich mich nur noch schwer überwinden, mich wieder auf eine Vollzeitstelle in einem Büro einzulassen. Klar gibt es inzwischen fast überall Homeoffice-Regelungen, mit denen man den ein oder anderen Tag von daheim arbeiten kann, aber mal ganz ehrlich, ich bin Community und Social Media Managerin. Ich kann im Grunde von überall auf der Welt arbeiten! Wozu dann umziehen oder täglich durch die Gegend fahren.
Inzwischen arbeite ich immer noch überwiegend von daheim. Und wieder bin ich auf einen Vorgesetzten getroffen, der keinerlei Berührungsängste mit der Arbeit auf Distanz hat. Im Gegenteil. Auch er kann übergeben, Freiraum lassen, vertrauen und bei Bedarf korrigieren und coachen. Dinge, die eine persönliche Präsenz brauchen, werden geplant und gebündelt und dann in den Tagen abgearbeitet, in denen ich vor Ort bin.
Was Führungskräfte virtueller Teams brauchen
Dazu gibt es unzählige Bücher. Wer sie lesen will, soll das tun. Ich berichte hier von meinen Erfahrungen aus den letzten Jahren und die sind ziemlich eindeutig.
Führungskräfte verteilter Teams brauchen:
- eine natürliche Autorität, die unabhängig von Hierarchieposing und Machtgehabe ist
- Lust, mit Menschen zu arbeiten und kommunizieren
- Klarheit in den eigenen Wünschen und Anforderungen
- Vertrauen um den notwendigen Freiraum für erfolgreiches Arbeiten lassen zu können
- Eine schnelle Auffassungsgabe, um Probleme auch auf Distanz nachvollziehen zu können
- Coachingqualitäten
- Empathie
Und je mehr Umwege sie in ihrem Leben bereits gegangen sind, umso besser eignen sie sich in meinen Augen.
Und was ist mit den Teams
Gleiches gilt im Grunde für die Teammitglieder. Gut gelaufen ist es überall da, wo ich mit Menschen arbeiten durfte,
- die keine Wert auf die klassische “Karriere” legen (Hierarchiedenken)
- die sich weitestgehend selbstbestimmt organisieren wollen und auch so arbeiten können die einen hohen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeit haben
- die klar und offen kommunizieren können
- die verlässlich und flexibel sind
- die bereits eine gute Portion Erfahrung mit sich bringen, gerne auch aus den unterschiedlichsten Fachbereichen (Mosaik-Lebenslauf)
- die Mut zum Widerspruch haben, wenn etwas in ihren Augen keinen Sinn macht
Eine Kombination, die ich auffallend oft bei den “Digitalen Nomaden” gefunden habe. Also den Leuten, die hier in Deutschland bereits erfolgreich waren und dann beschlossen haben, ihr stationäres Leben aufzugeben. Menschen, die ausgewandert sind, die sich im Ausland weiterbilden, die viel und gerne reisen und darauf nicht verzichten wollen. Für diese Freiheit nehmen Sie Einkommenseinbußen in Kauf und verzichten auf klassische Karrieren. Dafür sind sie zufrieden und ausgeglichen.
Ich behaupte keineswegs, dass alle digitalen Nomaden perfekte Mitglieder virtueller Teams sind. Das ist ganz sicher nicht so. Genauso wie es reichlich Menschen gibt, die ihre Stadt noch nie verlassen haben und trotzdem in das oben skizzierte Schema passen. Aber ich habe es in dieser Gruppe eben auffällig oft angetroffen.
Wie baue ich denn jetzt so ein virtuelles Team?
Dafür kann und will ich kein Allgemeinrezept abgeben. Ich behaupte sogar, dass es dafür kein Patentrezept gibt. Wie das richtige Team aussieht, hängt von den Anforderungen, der Aufgabe und den Zielen ab.
Was ich aber weitergeben kann, sind meine Erfahrungen und meine Schlussfolgerungen daraus:
- Sucht im Unternehmen einen passenden Ansprechpartner für das Team, der oder die Lust auf Experimente hat.
- Lasst diese Person überwiegend von daheim arbeiten, damit technische Probleme früh auffallen und gelöst werden können und sie versteht, in welcher Situation andere Teammitglieder sind.
- Sucht dann Mitarbeiter aus dem Unternehmen, die ebenfalls Lust auf ein solches Projekt haben. Eingearbeitet werden sie per Skype oder einem anderen Tool für Videokonferenzen.
- Ergänzt dieses Team mit Freelancern aus dem Umfeld der Digitalen Nomaden (also zum Beispiel erfahrene, selbstständig arbeitende FreiberuflerInnen).
- Tauscht euch regelmäßig offen darüber aus, was klappt und was weniger gut funktioniert.
Ich höre schon die Stimmen: Wie stellt die sich das vor? Bei uns wird sowas nie klappen. Mit unseren Aufgaben geht das nicht…
Möglich, dass das bei dir oder bei dir oder bei euch nicht funktioniert. Möglich auch, dass es funktionieren könnte, wenn man es versuchen würde. Aber das ist nicht mein Thema.
In meinem Umfeld funktioniert es so und zwar sehr gut. Und ich wette, dass das in anderen Unternehmen im Bereich Community Management, Support, Kundenbetreuung oder ähnlichen Aufgaben ebenso gut funktionieren kann. Auch 24/7. Dann sucht man sich seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eben in den passenden Zeitzonen.
Versucht es. Es geht.
Lust auf Diskussion?
So und jetzt freue ich mich auf Austausch und Feedback. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Was hat funktioniert, was nicht? Und warum hat es funktioniert oder nicht funktioniert. Lasst uns meine Erfahrungen fortschreiben. Hier, per Mail an mich oder beim nächsten BarCamp.
Edit: Jetzt, wo ich diesen Blogpost schreibe, fällt mir ein, dass ich eigentlich schon sehr viel länger in virtuellen Teams unterwegs bin. Es war mir nur nicht bewusst. Seit Anfang 2000 bewege ich mich in Chatrooms, den Vorgängern der Foren, in Foren und Communitys. Und sehr schnell hieß es: “Willst du unser Team verstärken”. Dafür gab es damals kein Geld. aber meine Neugier, hinter die Kulissen zu blicken, die Mechanismen zu verstehen, hat mich regelmäßig zum “Ja” bewogen. Auch das waren bereits verteilte Teams. Volunteers, die von daheim oder unterwegs Zugriff auf das Backend der jeweiligen Plattformen hatten und miteinander arbeiten konnten. Unkompliziert, barrierefrei und flexibel.
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